Die Astrologie als Landkarte, nicht als Identität.
Ich betrachte das Geburtshoroskop (Chart) als eine Art Landkarte deiner Persönlichkeit und Seele. Es zeigt verschiedene archetypische Energien, die in dem Moment deiner Geburt aktiv waren. Es ist verlockend, sich mit diesen Archetypen zu identifizieren und zu sagen: „Ich bin Skorpion und deswegen super tiefgründig“ oder „das ist wegen meinem Mond in Fisch“. Aber ich denke, dass diese Identifikation zu kurz greift.
Dein Horoskop als Stundenplan oder Rolle
Stell dir dein Geburtshoroskop eher wie einen Stundenplan vor, den du dir für dieses Leben zusammengestellt hast. Du hast verschiedene „Kurse“ belegt – bestimmte Themen und Erfahrungen möchtest du in diesem Leben beleuchten, dich darin ausprobieren. Oder als weiteres Bild: Du kannst es mit einer Rolle in einem Theaterstück vergleichen. Du probierst verschiedene Facetten aus, lernst durch diese Rolle und ihre Interaktionen mit anderen „Rollen“ mehr über dich selbst.
Was mir wichtig ist zu betonen: Du bist mehr als deine Rolle. Du bist nicht dieser Stundenplan selbst, und du bist auch nicht vollständig in deiner Rolle gefangen. Dein Horoskop zeigt die temporären Ausdrucksformen deiner Seele. Deine Seele ist ein tiefes Mysterium, das sich durch die Spiegelung dieser archetypischen Symbole in dieser materiellen Welt erfährt.
Jenseits der archetypischen Symbole
Deine Seele steht über den Archetypen – sie ist nicht auf sie beschränkt. Sie nutzt archetypische Muster lediglich als Werkzeuge, um sich in der physischen Welt auszudrücken und zu erfahren. In diesem Körper, in diesem Leben begegnet das Mysterium deiner Seele der materiellen Realität durch diese archetypischen Spiegel.
Wenn wir diese Spiegel mit unserem wahren Wesen verwechseln und glauben „Ich bin dieser Archetyp“, verfallen wir in eine spirituelle Oberflächlichkeit – eine Art moderne Selbstverherrlichung unter dem Deckmantel spiritueller Konzepte. Wir versuchen dann, das grenzenlose Geheimnis unserer Existenz in einfache, verständliche Schubladen zu pressen und verpassen dabei die wahre Tiefe unseres Seins.
Die Gefahr der Über-Identifikation
Die Gefahr besteht, wenn wir versuchen, „ein Gott oder ein Archetyp zu sein“. Liz Greene hat dies als den Untergang der Seele (Hybris) in der antiken griechischen Tradition beschrieben. Wenn wir uns in die Vorstellung verrennen, „Ich bin der Archetyp“, schränken wir uns ein. Wir übersehen die Einzigartigkeit unserer Seele, die sich auf vielfältige und oft unerwartete Weisen durch diese archetypischen Energien ausdrückt.
Der Chart (Geburtshoroskop) als Werkzeug zur Selbsterkenntnis
Ich sehe den Chart eher als ein wertvolles Werkzeug zur Selbsterkenntnis. Er kann uns helfen, bestimmte Muster und Potenziale in unserem Leben zu verstehen. Der Chart ist wie ein Kostüm, das wir anprobieren, um zu erkunden, wer wir sind. Aber das Kostüm ist nicht das, was uns im Kern ausmacht. Du bist der:die Beobachter:in hinter dem Stundenplan.
Astrologie als spiritueller Weg
Für mich ist Astrologie Teil eines ein spirituellen Weges. Die spirituelle Praxis besteht nicht darin, sich in seinem Chart zu verlieren. Es geht darum, die archetypischen Energien zu verstehen und sie bewusst in das eigene Leben zu integrieren, während man gleichzeitig die tiefe und unbeschreibliche Essenz der eigenen Seele erkundet.
Dein Geburtshoroskop ist ein kraftvolles Werkzeug, das dir zwei scheinbar widersprüchliche Dinge ermöglicht: Es hilft dir, dein Leben und deine Erfahrungen tiefer zu verstehen und gleichzeitig Abstand zu deinen Rollen und Mustern zu gewinnen. Es zeigt dir, wie du deine einzigartige Rolle in diesem Theaterstück namens Leben mit voller Leidenschaft und Hingabe spielen kannst – und dennoch mit dem Bewusstsein, dass du mehr bist als diese temporäre Manifestation.
Hierin liegt die große spirituelle Aufgabe: Die Rolle vollständig zu verkörpern, mit all ihren Herausforderungen, Lektionen und Schönheiten – und gleichzeitig zu wissen, dass es nur eine Rolle ist. Es bedeutet, ganz im Leben zu stehen und es voll zu umarmen, während ein Teil von dir bewusst bleibt, dass du ein Mysterium bist, das durch diese Rolle hindurchscheint. Ich glaube, dass wenn du diesen Tanz zwischen vollkommener Präsenz und wissender Transzendenz meisterst, kannst du am Ende zufrieden von der Bühne des Lebens abtreten – im Wissen, dass du deine Rolle gut gespielt hast, ohne dich jemals vollständig darin zu verlieren.